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Fortbildungsbericht: Die Einbindung der Staatsanwaltschaft in Wiederaufnahmeverfahren und Fehlerquellen bei Personenidentifikationen


Im November und Dezember 2024 haben wir zwei Fortbildungen angeboten: In der ersten Veranstaltung referierte Charles F. Linehan über auf Wiederaufnahmeverfahren spezialisierte Einheiten der US-Staatsanwaltschaft. Anschließend diskutierten deutsche Expert:innen die Einbindung der Staatsanwaltschaften in hiesige Wiederaufnahmeverfahren. Die zweite Fortbildung widmete sich der forensischen Personenidentifikation. Dr. Andreas Düring veranschaulichte in seinem Vortrag anhand von Praxisbeispielen aktuelle Methoden sowie deren Möglichkeiten und Grenzen.




Fortbildung I: Fehlurteile in den USA und die Rolle staatsanwaltschaftlicher Wiederaufnahmeeinheiten



Einblick in die Arbeit der Conviction Review Unit Brooklyn

Am 21. November 2024 gewährte Charles F. Linehan, Leiter der Conviction Review Unit Brooklyn (kurz: CRU) in New York City, Einblicke in die Arbeit seiner hochspezialisierten Einheit.

Die 2014 gegründete CRU bietet verurteilten Personen die Möglichkeit, ihren Fall mithilfe eines online verfügbaren Fragebogens zur Überprüfung einzureichen. In der anschließenden Vorprüfung konzentriert sich die CRU auf zwei zentrale Fragen:

1.     Liegen Behauptungen vor, die eine Wiederaufnahme begründen könnten?

2.     Bestehen realistische Möglichkeiten, diese Behauptungen zu beweisen?

Die CRU, die mit zehn Vollzeitjurist:innen und weiterem Fachpersonal besetzt ist, bearbeitet parallel 50 bis 70 Fälle. Ungefähr 10 % der Fälle führen zu einer sogenannten Exoneration, vergleichbar mit einem Freispruch. Mit bislang 40 erfolgreichen Wiederaufnahmen ist die CRU die erfolgreichste Einheit ihrer Art in den USA. Eine detaillierte Dokumentation ihrer Arbeit und der Fälle bis 2015 findet sich im Bericht "426 Years: An Examination of 25 Wrongful Convictions in Brooklyn".

Ein entscheidendes Merkmal der CRU ist ihre Unabhängigkeit vom übrigen Betrieb der Staatsanwaltschaft – einschließlich des Appeals-Büros. Während sich das Appeals-Büro ausschließlich auf die rechtliche Überprüfung von Rechtsmitteln konzentriert, führt die CRU eigenständige und umfassende Ermittlungen durch. Die Relevanz dieser Trennung wird durch eine Studie zu DNA-basierten Exonerations verdeutlicht: In 77 % der Fälle, die später zu einer Exoneration führten, hatte das Appeals-Büro die ursprüngliche Verurteilung zuvor bestätigt. Linehan betonte in diesem Zusammenhang die Bedeutung gründlicher Ermittlungen, zu denen selbst nach Jahrzehnten noch Tatortbesuche und persönliche Zeugenbefragungen im häuslichen Umfeld der Betroffenen gehören.


Häufige Fehlerquellen und kognitive Verzerrungen

Weiter hob Linehan typische Ursachen für Fehlurteile hervor, die in den USA detailliert im National Registry of Exonerations erfasst und analysiert werden, darunter:

  • falsche Geständnisse,

  • Fehlidentifikationen und falsche Zeugenaussagen

  • polizeiliches und staatsanwaltschaftliches Fehlverhalten sowie

  • fehlerhafte forensische Beweise.

Ein weiterer Schwerpunkt lag auf kognitiven Verzerrungen, wie Confirmation Bias (Bestätigungsfehler) und Expectation Bias (Erwartungsverzerrung), die bei Ermittlungen häufig unbewusst auftreten und die Objektivität der Ermittler:innen gefährden können.

Zusätzlich verdeutlichte Linehan die Unterscheidung zwischen Actual Innocence und Legal Innocence. Während Actual Innocence den Nachweis erfordert, dass die betroffene Person die Tat tatsächlich nicht begangen hat, liegt Legal Innocence vor, wenn schwerwiegende Verfahrensfehler (Due Process Violations) das Urteil unhaltbar machen – ein aus deutscher Perspektive nicht selbstverständlicher Ansatz.


Podiumsdiskussion: Herausforderungen und Perspektiven

Im Anschluss an Linehans Vortrag moderierte Laura Farina Diederichs, Vorständin im Verein, eine Podiumsdiskussion mit namhaften Expert:innen:

  • Professor Dr. Erol Pohlreich, Sachverständiger beim Bundesverfassungsgericht zur Wiederaufnahme zu Ungunsten des Verurteilten,

  • Oberstaatsanwalt Sebastian Büchner, Pressesprecher der Generalstaatsanwaltschaft Berlin,

  • Rechtsanwältin Dr. Tatjana Holter, ebenfalls Vorständin im Verein.

Die Diskussion startete mit Einblicken aus der Praxis: Tatjana Holter berichtete aus eigener Erfahrung von den Hürden des Wiederaufnahmeverfahrens bei eigenen Ermittlungen, Finanzierung von Sachverständigengutachten und der Antragstellung selbst. Sebastian Büchner gewährte ernüchternde Einblicke in die Praxis der Berliner Staatsanwaltschaft: Es werden kaum Wiederaufnahmeverfahren bearbeitet und anders als in einigen Bundesländern gibt es in Berlin keine spezialisierten Dezernate für Wiederaufnahmeverfahren; stattdessen sind die bearbeitenden Dezernate dieselben, die auch die Ausgangsverfahren geführt haben.

Die Diskussion thematisierte zudem die rechtlichen Grundlagen der Einbindung der Staatsanwaltschaft in Wiederaufnahmeverfahren und ihr Rollenverständnis. Denn anders als im Ermittlungsverfahren obliegt in diesem Verfahrensstadium dem Gericht die führende Rolle. Gleichwohl wurde die Notwendigkeit einer besseren Einbindung der Staatsanwaltschaft insbesondere aufgrund ihrer Ermittlungsmöglichkeiten betont. Dabei wurde jedoch auch auf die begrenzten Ressourcen der Staatsanwaltschaft hingewiesen. In Betracht gezogen wurde eine verstärkte Kooperation von Staatsanwaltschaft und Verteidigung, die durch gemeinsame Ermittlungsstrategien und transparente Vorgehensweisen effektiver zusammenarbeiten könnten. Dabei könnten klare Vereinbarungen – wie es sie auch in den USA gibt – dazu beitragen, diese Zusammenarbeit zu erleichtern.


Ein Fazit mit Blick nach vorne

Die Fortbildung verdeutlichte nicht nur die Herausforderungen, sondern auch das Potenzial einer intensiveren Zusammenarbeit zwischen Staatsanwaltschaft, Verteidigung und Gericht. Der Verein wird die gewonnenen Impulse aufgreifen, um die Diskussion in Deutschland weiter voranzutreiben und konkrete Maßnahmen anzustoßen.





 


Fortbildung II: Anthropologische Vergleichsgutachten vor Gericht  

 

Die zweite Fortbildung wurde am 5. Dezember 2024 von Dr. Andreas Düring durchgeführt, der aufgrund der positiven Resonanz auf seinen Vortrag im Mai 2024 bereits zum zweiten Mal für uns referierte. Andreas Düring ist Anthropologe und seit 2017 am Institut für Forensisches Sachverständigenwesen (IfoSA) tätig und spezialisiert auf Personenidentifikation.


Anthropologische Vergleichsgutachten: Methoden, Stärken und Schwächen

Die Fortbildung befasste sich mit den Grundlagen und Herausforderungen anthropologischer Vergleichsgutachten, die durch praxisnahe Fallbeispiele veranschaulicht wurden. Andreas Düring betonte dabei wiederholt, dass die Verantwortung für die Überzeugungsbildung und Entscheidungsfindung letztlich beim Gericht liege und Expert:inneneinschätzungen lediglich einen Baustein im Gesamtbild darstellten. Ihre Aussagekraft sei dabei stark von der Qualität der zugrunde liegenden Daten abhängig.


Datengrundlage und neue Herausforderungen durch KI

So betonte Dr. Düring zu Beginn der Veranstaltung die Bedeutung der Bildqualität und der Herkunft des Ausgangsmaterials. Er wies darauf hin, dass Manipulationen durch automatische Bildbearbeitung oder Deepfakes relevante Informationen verfälschen und die Identifikationsarbeit erheblich erschweren können. Dabei warnte er eindringlich vor einer unkritischen Nutzung solcher Technologien und unterstrich die Notwendigkeit sorgfältiger Prüfungen.


Wahrscheinlichkeitsskala nach Schwarzfischer

Ein weiterer Schwerpunkt lag auf der Vorstellung der Wahrscheinlichkeitsskala nach Schwarzfischer. Diese Skala klassifiziert Identitätswahrscheinlichkeiten in neun Prädikatsklassen – von „Identität praktisch erwiesen“ bis „Nichtidentität praktisch erwiesen“. Dabei handelt es sich nicht um eine direkte Wahrscheinlichkeitsangabe, sondern um die Wahrscheinlichkeit, dass ein anderes Gutachten zum gleichen Ergebnis käme. Dieses System hat sich als Standard in der forensischen Anthropologie etabliert und schafft eine klare Grundlage für die Einschätzung von Identifikationen.

Dr. Düring räumte ein, dass ihm die Schwächen der teils weniger präzisen Aussagen innerhalb dieser Skala bewusst seien. Dennoch hob er hervor, dass die Vorteile überwiegen, da eine exaktere Darstellung in der Praxis kaum realisierbar sei. Die etablierte Skala biete die Möglichkeit, Unsicherheiten in der Beurteilung angemessen zu berücksichtigen, ohne dabei an Aussagekraft und Präzision einzubüßen.


Kriterien für die Personenidentifikation

Dr. Düring veranschaulichte zentrale Identifikationskriterien, die bei anthropologischen Vergleichsgutachten eine Rolle spielen, wie beispielsweise:

  • Personentypie: Individuelle Seitenungleichheiten oder einzigartige Merkmale, die eine Person eindeutig kennzeichnen.

  • Muttermale (Naevi): Auffällige Merkmale, die durch Form, Farbe oder Lage zur Identifikation beitragen.

  • Körperveränderungen (Body Alteration): Narben, Tätowierungen oder andere Veränderungen, die oft eine eindeutige Rückführung auf eine Person ermöglichen.

Diese Merkmale bilden die Grundlage für eine präzise Analyse von Bildern oder Videoaufnahmen. Bei dynamischen Materialien, wie Videoaufzeichnungen, ergänzen Analysen des Gangbildes, der Schrittlänge oder der Bewegungsmuster die Untersuchung. Dr. Düring betonte zudem die Notwendigkeit, jedes Standbild eines Videos sorgfältig zu prüfen, da wichtige Details ansonsten übersehen werden könnten.


3D-Modelle: Chancen und Risiken

Ein weiteres Thema war der Einsatz von 3D-Modellen zur Tatortrrekonstruktion. Zwar handle es sich um eine innovative Möglichkeit, doch warnte Dr. Düring vor einer Überschätzung ihrer Aussagekraft. Solche Modelle könnten eine vermeintliche Sicherheit suggerieren, die faktisch nicht gegeben sei, und müssten daher mit Bedacht eingesetzt werden. Dr. Düring betonte, dass – wann immer möglich – eine Untersuchung direkt am Tatort vorzugswürdig sei, da diese den Kontext und die Details eines Falls weit präziser erfasse als jede virtuelle Rekonstruktion.


Positive und negative Identifikation

Bemerkenswert war darüber hinaus Dr. Dürings Einschätzung zur positiven und negativen Identifikation. Während positive Identifikationen häufig Unsicherheiten bergen, handle es sich bei einer negativen Identifikation – also dem Ausschluss einer Person – um eine stärkere Beweisgrundlage, da ein Identifikationsvergleichsgutachten regelmäßig keine Aussage darüber treffe, wie viele weitere Personen dieselben Übereinstimmungen wie die Untersuchungs- und Vergleichsperson aufwiesen.


Fazit

Die Fortbildung von Dr. Andreas Düring bot einen gehaltvollen Einblick in die Methoden und Herausforderungen der Personenidentifikation in der forensischen Praxis. Mit seiner klaren und differenzierten Darstellung regte sie nicht nur zur Reflexion über bestehende Verfahren an, sondern sensibilisierte auch für die Risiken, die moderne Technologien und unzureichende Datenqualität mit sich bringen. Die Teilnehmer:innen konnten wertvolle Impulse für ihre eigene Praxis mitnehmen, und der Verein plant, die gewonnenen Erkenntnisse in die eigene Arbeit einzubringen und durch Kooperationen, auch unter Einbeziehung von Studierenden, weiter auszubauen.

 



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